Grundlegende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes zur Beachtung des Kindeswohls bei der Abschiebung von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten

Praxis der Berliner Ausländerbehörde muss grundlegend geändert werden!

Im Dezember 2020 ging der Fall einer skandalösen Abschiebungsandrohung gegenüber einem 9-jährigen unbegleiteten afghanischen Jungen durch die Berliner Medien. Die Ausländerbehörde hatte dem Jungen gleich nach der ersten Vorsprache eine "Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung" zugestellt, obwohl die Abschiebung de facto gar nicht durchgeführt werden sollte. Die Ausländerbehörde hatte sich damit verteidigt, dass man leider nicht gewusst habe, dass das Mädchen gerade humanitär nach Berlin aufgenommen worden war.

Jetzt hat am 14. Januar 2021 der Europäischen Gerichtshof (EuGH, Rechtssache C‑441/19) in einem ähnlich gelagerten Fall aus den Niederlanden es grundsätzlich für rechtswidrig erklärt, gegenüber einem unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten eine „Rückkehrentscheidung“ zu treffen, ohne dass seitens der Behörden zuvor eine „umfassende und eingehende Beurteilung der Situation des Minderjährigen“ vorgenommen worden wäre und „dabei das Wohl des Kindes gebührend berücksichtig“ worden ist. Dabei sind „insbesondere das Alter, das Geschlecht, die besondere Schutzbedürftigkeit, der physische und psychische Gesundheitszustand, die Unterbringung in einer Aufnahmefamilie, das Schulbildungsniveau und das soziale Umfeld des Minderjährigen“ in den Blick zu nehmen. Und es muss vor einer Rückführungsentscheidung eine Vergewisserung erfolgt sein, „dass für den Minderjährigen eine geeignete Aufnahmemöglichkeit im Rückkehrstaat zur Verfügung steht“.

Spätestens mit dieser Entscheidung dürfte die bisherige Praxis der Berliner Ausländerbehörde gegenüber neu eingereisten unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten nicht mehr haltbar sein:

Einer Rückkehrentscheidung im europarechtlichen Sinne entspricht im deutschen Aufenthaltsrecht die Abschiebungsandrohung nach § 59 Aufenthaltsgesetz (so der Gesetzgeber: Bundestagsdrucksache BT-DrS 17/5470, S. 24). Vor Erlass einer Abschiebungsandrohung sind daher die vom EuGH jetzt genannten Kriterien mit Blick auf das Kindeswohl eingehend zu prüfen. Der deutsche Gesetzgeber war im Jahre 2011 - als die sogenannte europäische Rückführungsrichtlinie in deutsches Recht umgesetzt wurde - der Ansicht, dass es für den Minderjährigenschutz ausreichend sei, lediglich vor dem Vollzug einer Abschiebung zu prüfen, ob der Minderjährige im Heimatland „einem Mitglied seiner Familie, einer zur Personensorge berechtigten Person oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung übergeben“ wird und hat dies damals in § 58 Abs. 1a AufenthG festgeschrieben. Dies ist aber nach dem Urteil des EuGH in keinem Falle mehr ausreichend. Vielmehr muss diese Prüfung vor dem Erlass der Abschiebungsandrohung erfolgen, nicht erst vor der tatsächlichen Durchführung einer Abschiebung.

Dies steht im eklatanten Widerspruch zur bisherigen Praxis der Berliner Ausländerbehörde - nicht nur im Fall des 9jährigen aus Moria. Die Berliner Praxis sieht nämlich bislang so aus, dass gegenüber allen neu eingereisten unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten bereits nach ihrem ersten Kontakt mit der Berliner Ausländerbehörde - der in aller Regel bereits im ersten Monat nach ihrem Ankommen in Berlin stattfindet - eine „Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung“ per Verwaltungsakt verfügt wird, es sei denn, die Minderjährigen haben den ausdrücklichen Wunsch geäußert, in Deutschland einen Asylantrag stellen zu wollen. Dem Erlass der Abschiebungsandrohung geht eine persönliche Befragung der Minderjährigen zu ihren Personaldaten und ihrem Reiseweg voraus. Diese erfolgt allerdings in Abwesenheit und ohne Beteiligung eines rechtlichen Vertreters oder Beistandes für den rechtlich handlungsunfähigen Minderjährigen in den Räumlichkeiten der Berliner Ausländerbehörde.

Die vom EuGH vorgeschriebene umfassende Prüfung der Kindeswohlumstände und die Vergewisserung, ob eine kindgerechte Rückführung überhaupt möglich wäre, erfolgt seitens der Ausländerbehörde vor Erlass dieser Abschiebungsandrohungen jedoch nicht.

Zu Recht weist der EuGH in seiner Entscheidung vom 14.1.21. darauf hin, dass eine Rückkehrentscheidung ohne diese Prüfung einen Minderjährigen „in eine Situation großer Unsicherheit hinsichtlich seiner Rechtsstellung und seiner Zukunft versetzt, insbesondere in Bezug auf seine Schulausbildung, seine Verbindung zu einer Pflegefamilie oder die Möglichkeit, in dem betreffenden Mitgliedstaat zu bleiben“. Dies entspricht auch unserer Erfahrung, dass die von der Berliner Ausländerbehörde erlassenen Abschiebungsandrohungen zu einer enormen Verunsicherung und Verängstigung führen, bis hin zu gravierenden psychischen Krisen bei sowieso häufig stark belasteten Kindern und Jugendlichen.

Was folgt aus der Entscheidung des EuGH?

Aus unserer Sicht darf künftig keine Abschiebungsandrohung gegenüber unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten vor der erforderlichen und vom EuGH genau beschriebenen Kindeswohlprüfung erfolgen. Bei der Prüfung des Kindeswohles sind zwingend die Vormund*innen der Minderjährigen einzubeziehen.

Da in aller Regel eine Abschiebung von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten vor Volljährigkeit nicht erfolgt, da eine kindgerechte Rückführung gerade nicht sichergestellt werden kann, sollte unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten künftig statt einer Abschiebungsandrohung nach dem Erstkontakt mit der Berliner Ausländerbehörde eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Das europäische Migrationsrecht lässt dies ausdrücklich zu, denn die EU-Mitgliedstaaten „können jederzeit beschließen, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen Vorliegen eines Härtefalls oder aus humanitären oder sonstigen Gründen einen eigenen Aufenthaltstitel … zu erteilen“ (Art. 6 Abs. 4 der europäischen Rückführungsrichtlinie). Nach dem deutschen Aufenthaltsgesetz käme hier insbesondere § 25 Abs. 5 AufenthG in Betracht. Nach dieser Vorschrift kann eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn die Ausreise „aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist.“ Solange für einen unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten eine humane und kindgerechte Rückführung nach den Maßgaben der Entscheidung des EuGH nicht möglich ist, liegen unseres Erachtens diese Voraussetzungen vor.

Die Entscheidung des EuGH sollte in Berlin zudem zum Anlass genommen werden, die bisherige Praxis des aufenthaltsrechtlichen Umganges mit unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten zu ändern. Vorrang sollte hier künftig die jugendhilferechtliche Inobhhutnahme haben: Alle Angaben, die die Minderjährigen bei der ausländerbehördlichen Erstbefragung machen sollen, sind zuvor bereits von der Senatsjugendverwaltung im Rahmen der (vorläufigen) Inobhutnahme durch pädagogisch geschulte Fachkräfte erhoben worden. Diese jugendbehördlich erhobenen und schriftlich protokollierten Angaben können problemlos von der Ausländerbehörde übernommen werden. Dies vermeidet bürokratische Doppelbefragungen und entlastet sowohl die Minderjährigen als auch die Mitarbeitenden der Ausländerbehörde. Da – auf der Grundlage der EuGH-Entscheidung – eine Abschiebung neueingereister unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter die absolute Ausnahme darstellt, sollte die ausländerbehördliche Befassung auch nicht mehr durch das Sachgebiet unerlaubte Neueinreisen der Abteilung Rückführung der Ausländerbehörde erfolgen.

Wir werden uns daher dafür einsetzen, dass die Berliner Ausländerbehörde ihre bisherige Verwaltungspraxis gegenüber unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten grundlegend ändert.

Sollten in der Vergangenheit Abschiebungsandrohungen ohne die erforderliche Kindeswohlprüfung erlassen worden sein, sollte die Ausländerbehörde diese umgehend von Amts wegen aufheben. Denn ein „rechtswidriger Verwaltungsakt kann, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, … zurückgenommen werden“, § 48 Verwaltungsverfahrensgesetz. Ehrenamtliche Vormund*innen, die über akinda betreut werden, können sich gerne an uns wenden, um sich über ein etwaiges Vorgehen beraten zu lassen.

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